Wir hätten uns alles gesagt


Das Buch, das aus Judith Hermanns Frankfurter Poetikdozentur entstanden ist, empfinde ich als überraschend persönlich. Ich habe ihre Texte immer als ein stückweit distanziert empfunden und ich hätte nicht vermutet, dass sie so stark mit ihrer eigenen Biografie zusammenhängen, wie die Autorin es uns hier darlegt.

„Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“

Hermann gibt uns in diesem Werk einen tiefen Einblick in ihr Schreiben, die Prozesse und Zusammenhänge, wie ihre Texte entstehen und wie eng sie mit Erlebtem, mit Freunden und der Familie verbunden sind. Sie taucht dabei tief in die Geschichte ihrer Familie ein, stellt uns ihren jähzornigen, depressiven Vater, die abwesende Mutter und die geliebte Großmutter vor. Detailliert beschreibt Hermann das Sommerhaus ihrer Familie, es ist die Vorlage für das Küstenhaus in ihrem Roman „Daheim“.
Viele Sommer hat sie darin mit ihrem Kind und ihren Freund:innen verbracht.

„Ich verhöre mich selbst. Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden, deren Struktur ich nicht begründen kann.“

Hermann abstrahiert Erlebtes auf das Wesentliche, wandelt, verwandelt, fiktionalisiert (wieviel Wahrheitsgehalt bleibt ist ungewiss), dabei lässt sie Themen aus, die trotzdem Gegenstand der Erzählung sein können. Geschichten können immer auch vom Ungesagten handeln. Ein spannender Punkt!

Ausführlich untersucht Hermann die Beziehung zu ihrer Freundin Ada, die längst schon zu Ende gegangen ist, aber doch einen besonderen Wert in ihrem Leben behalten hat. So auch die Beziehung zu ihrem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs, der die Schlüsselrolle in Träume (Lettipark) spielt.
Dabei ist die Autorin als Dozentin keineswegs belehrend. Es ist eher ein literarisches Vorantasten, als müsste Hermann selbst erstmal herausfinden, wie sie zu ihrer Art des Schreibens gekommen ist und was es damit auf sich hat.

Eine bereichernde Lektüre. Ich sehe die Autorin jetzt mit anderen Augen. Habe ihre Bücher immer schon geliebt, nach diesem Text habe ich das Gefühl: es wird zweifellos so bleiben!
Für alle Judith-Fans: Heftige Leseempfehlung❤️

Begleitend zur Lektüre habe ich wahlweise Geschichten aus „Lettipark“ und Abschnitte aus „Daheim“ nochmal gelesen, da Hermann sich in ihren Ausführungen auf sie bezieht.
Besonders spannend fand ich auch die Ausführungen über ihr liebstes Kinderbuch „Das gelbe Haus“, das sie zum Lesen und Bücherlieben gebracht hat.

Erschienen am 15.3.23 im S.Fischer Verlag