Die Stadt und ihre ungewisse Mauer


Was für ein Buch!
Ich kann hier nur wiederholen, was ich schon in der Leserunde schrieb:
Die ersten Seiten schon haben mich gleich in die Geschichte hineingezogen.
Diese zarte Liebe zwischen dem Ich-Erzähler und dem namenlosen Mädchen, ganz rein und unverfälscht, ist bezaubernd. Dann die Idee von einer geheimnisvollen Stadt, in die man nicht ohne weiteres gelangen kann, sehr spannend, und die eiförmigen Träume …
Alles leicht magisch oder besser: surreal.
Doch bald schon verschwindet das Mädchen aus der Realität und auch der Ich-Erzähler finden sich in der Stadt mit der ungewissen Mauer wieder. Er bekommt die Aufgabe, die alten Träume zu lesen und trifft das Mädchen wieder. Sie arbeitet in der Bibliothek als seine Assistentin, doch erinnert sich weder an ihn noch kann sie Liebe empfinden.
Damit sein Schatten nicht stirbt, kehrt er auf die andere Seite der Mauer zurück und arbeitet als Bibliotheksleiter, trifft den geheimnisvollen Herrn Koyasu und den Submarine Jungen, der ihn am Ende doch wieder in die Stadt bringt … #nospoiler

Welche Welt ist die Realität? Was ist Traum? Wer ist Person und wer Schatten?
Wirklichkeit und Fantasie/Traum koexistieren in diesem Text, sind verschlungen auf verschiedenen Ebenen und verschmelzen zum Ende hin, mehr soll nicht verraten werden.
Murakami ist ein Meister der Luhmannschen Kontingenz: Immer könnte alles auch anders sein, als ich grad noch dachte.

An seinem Schreiben gefällt mir, dass er seine Figuren so respektvoll behandelt
und seine Sprache: Das wahre Ich, die ungewisse Mauer, die ungefähre Zeit. Sie ist so vorsichtig, bedächtig und eröffnet Assoziationsspielräume. Dieses Vage und Offene im Text kurbelt die Fantasie an. Alles scheint möglich.

Allerdings der Wehrmutstropfen: Die wenigen Frauenfiguren haben folgende Adjektive: schön, schlank, anmutig, schmal, klein, außerdem sind sie leise, unscheinbar, wohlerzogen, nicht aus der Reihe tanzend, sondern sich fügend. Normalerweise hätte mich das sicherlich aufgeregt, aber hier nehme ich es in Kauf, weil Murakamis magischer Realismus mich sehr bezaubert, interessanterweise viel mehr als der von Borges.

Große Leseempfehlung!

#namethetranslator: Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Erschienen im Dumont Verlag.